Dienstag, 7. Juni 2011

Don't Believe the Hype - Gegen Hitparaden

Billboard, die Mutter aller Musik-Verkaufscharts
Hitparadenbetrug in der Schweiz? Nunja, das wäre keine neue Sache. Siehe zB hier. Auch Manager Brian Epstein kaufte damals 10.000 Singles "Love Me Do" der Beatles. Und in den 50ern in Deutschland kam es zum Skandal, als folgende ausgeklügelte Vetternwirtschaft herauskam:

Musikalisch eher wenig begabte Radiomoderatoren hatten eigene Lieder produziert und als B-Seiten auf die Singles erfolgversprechender Musiker-Talente gepresst. Als Moderatoren spielten sie in ihren Sendungen nun die A-Seiten der Singles, auf deren B-Seite jeweils ein Kollege sang (die Singles mit den eigenen B-Seiten wurden ausgelassen, damit es weniger auffiel). Der Clou: Wenn nun die Single nach der Sendung gut verkauft wurde, wurden die Tantiemen zu gleichen Teilen an alle Künstler auf der Platte gezahlt - also auch an die B-Seiten-Kollegen. Und so verdienten sich die Moderatoren der Schlagersendungen durch die einvernehmliche gegenseitige Hilfe eine goldene Nase, ohne das ihre Lieder wirklich gehört wurden. In den Verkaufscharts waren sie, wenn man nicht B-Seiten generell raus rechnete, ebenfalls weit oben.
Nun sind das einzelne Fälle. Doch Hitparaden verzerren die Wahrnehmung der musikalischen Verbreitung - auch wenn sie nicht manipuliert werden! Der französische Musiksoziologe Antoine Hennion hat vor vielen Jahren für den französischen Markt einmal folgenden Umstand beschrieben, der heute wohl immer noch und international gilt:
In den Hitparaden liegen Songs aus einem Musik-Segment vorne, in dem Künstler stark beworben und promoted werden oder bereits sehr bekannt sind. Der sogenannte Mainstream. Die Musik ist oft gut und auch verschieden. Das gemeinsame der Musik ist eher, dass sie vom Pegel her gut in Radio und Auto hörbar ist (wenig Schwankungen von laut zu leise)  und dass sie wenig Ecken und Kanten hat. Eine weitere Gemeinsamkeit: Die Mainstream-Künstler werden von ihren Labels, im Falle des Misserfolgs, meist nicht lange gehalten. Dieses stark auf Wirtschaftlichkeit ausgelegte Segment bringt u.a. dadurch eher wenige Veröffentlichungen hervor, denn mässig erfolgreiche Mainstream-Acts werden keine 6 Alben veröffentlichen. Sagen wir im Fantasieland Hitparadia erscheinen so zB 100 neue Mainstream-Platten die Woche. Hörer dieser Sparte teilen ihr Geld, ihre Zeit und ihre Klicks also auf wöchentlich 100 neue Platten auf.
Die anderen, alternativeren Segmente (wir bleiben, weil es um Hitparaden geht mal bei der Eingrenzung "populäre Musik") bestehen aus heutzutage sich selbst vermarktenden Künstlern oder aus Künstlern von kleineren Liebhaberlabels, die ihre Acts auch halten, wenn sie nicht sofort viel Geld einspielen - der vielbeschworene "long tail". Schon in einem (!) dieser alternativen Musik-Segmente werden nun sehr viel mehr Platten veröffentlicht. Eine schwer überschaubare Vielfalt von beispielsweise Math Rock bis Death Metal im Falle der Rockmusik. Je nach Definition von "Populärer Musik" und "Rock" ist die Zahl natürlich unterschiedlich, aber in unserem Beispielland Hitparadia sind es vielleicht so 1000 neue Rock-Platten die Woche. Da ist nun auch einiger Mist dabei, aber eben auch viel tolles.
Nun die Erkenntnis: Im Schnitt sind die Mainstreamplatten erfolgreicher - Aber nicht etwa, weil die meisten Leute Mainstreampop hören, sondern weil alleine die Fans/Käufer/Hörer von Rockmusik ihre Kapazitäten auf mindestens zehn mal mehr Platten verteilen. Obwohl also vielleicht in Hitparadia viel mehr Rockmusik gehört wird, steht also zB Adele auf Platz eins. Adele ist dann zwar tatsächlich einzeln betrachtet der aktuell meist verkaufte Act in Hitparadia. Aber vor allem deshalb, weil ihre Fans nicht so besonders viel verschiedene Musik hören bzw. kennenlernen. Der weit verbreitete Folgeschluss ist nun, die allermeisten Menschen würden solche Mainstream-Pop-Musik wie zB die von Adele hören. Doch alleine in der Sparte Rock (und es gibt ja noch viele weitere Sparten) gibt es mehr Hörer/Käufer/Fans, die nur eben ihren Geschmack vielfältiger ausleben und sich so auf viel mehr Alben verteilen. Die Stilisierung der Hitparade zu einem Instrument, welches den allgemein verbreiteten Musigeschmack misst, ist in den heutigen Zeiten weit ausdifferenzierter Musikwelten also ein grober Irrtum. Ein leider sehr weit verbreiteter Irrtum.

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