Freitag, 7. August 2009

Diedrich Diederichsen ist gegen den Flaneur

Diedrich Diedrichsen ist der Papst der intellektuellen Popmusik-Kritik Deutschlands. Lange Jahre war er Herausgeber der Zeitschrift „Spex“, ausserdem Musikkritiker für den Berliner „Tagesspiegel“ und „konkret“ Hochschuldozent und Jurymitglied in der Bundeskulturstiftung. Ich hatte einmal überlegt diesen Blog irgendetwas mit „Flaneur“ zu nennen. Diedrich Diedrichsen wäre dagegen gewesen. Denn ein Flaneur ist jemand, der teilnahmslos unherstreift.

Diedrichsen spricht sich aus gegen Feuilletonismus und gegen teilnahmslose Kritik. Auch „intellektuell“ würde er sich also wohl nicht nennen wollen. Distanzierte Teilnahmslosigkeit ist das Schlimmste bei Popkritik. Das betrifft für ihn auch den Typus des „ewigen Flaneurs“ sowie des „erlebnishungrigen Touristen“. Stattdessen steht laut Diedrichsen die Kritik und Beschreibung von Pop-Musik vor dem Problem, sowohl ernst und umsichtig als auch teilnehmend und betroffen sein zu müssen: „Pop-Musik-Kritiker haben ein Problem, das andere professionelle Chronisten von Kunst und Kultur nur in Ausnahmefällen kennen: es reicht nicht, dass sie beobachten und beurteilen, sie müssen bezeugen.“ Damit meint Diedrichsen nicht etwa eine Erwartungshaltung der Leserschaft oder der Verleger. Im Gegenteil – zu oft sind hier nur Lockerheit und „Egojounalismus“ gefordert. Nein, es ist der Gegenstand an sich, die Pop-Musik, der mehr noch als andere Musik erst über die Rezeption der Hörer und Fans zu einem Kunstwerk wird. Ob ein Popsong gut ist, entscheidet nicht das Werk selbst, sondern die Rezeption. Daher kann auch kein Kunstkritiker Pop-Musik beurteilen, ohne die Hörer zu kennen und mit Ihnen mitzufühlen. Denn auch aus rein musikalischer Perspektive grottige Stücke (in der klassischen Musik etwa gibt es diese Perspektive), können zum großen Ereignis der Popmusik werden, d.h. für eine bestimmte Gruppe von Menschen auch zum großartigen Ereignis. Und das ist legitim – so sehr manche auch die Nasen rümpfen. Das Naserümpfen Anderer ist sogar oft eine der Hauptvoraussetzungen für gelungene Pop-Musik.

Allerdings – wirft Diedrichsen ein - ist das Ziel von Popmusik nicht einfach Abgrenzung im Sinne von Ausschluss. Distinktionen sind „nicht per se böse“: „Sie setzen noch existenziell erlebte Unterschiede in den nivellierten Alltag der Warenwelt – Positionen und Lebensentwürfe und was davon noch übrig ist, die weder religiös-reaktionär begründet sind noch einfach in der warenförmigen Diversität von Produktpaletten aufgehen.“

Muss man, um Popmusik zu verstehen, den ganzen Lebensentwurf mitleben? Nun gut, auch Diedrichsen ist wohl nicht ständig „drei Tage wach“ im Berghain zu finden. Und wo man es von ihm erwartet protzt Diedrichsen gerne mal auf abschreckende Weise mit seinem Intellekt und hat dabei schon so manchen Leser ausgeschlossen und auch so manchen Musiker. Einmal habe ich ihn im Gespräch mit Lou Reed gesehen. Diedrichsen versuchte Reed eine poptheoretische Reflexion zum Album „Metal Machine Music“ abzuluchsen. Nicht abwegig, denn „Metal Machine Music“ war eine Doppel-LP auf der beinahe ausschließlich E-Gitarrenrückkopplungen zu hören sind. Doch Lou Reed beharrte auf einer „Hauptsache es rockt“-Masche. Der Frontmann von The Velvet Underground und mit „Walk on the Wild Side“ als Solokünstler berühmt Gewordene wollte nichts hören davon, dass er das Album als Protest gegen seinen Mainstreamerfolg gemacht haben könnte, dass er vor dem Album einen bindenden Plattenvertrag über mehrere Alben hatte. Und danach nicht mehr. Und über eine transzendentale oder agitatorische Botschaft seiner Rückkopplungen wollte er sich auch nicht unterhalten.

Über Popmusik zu reflektieren ist eben schwierig, weil die argumentativen Grundlagen „uneingeführt“ sind. Bei den Hörern und bei den Musikern. (Und bei den Lesern des Tagesspiegel) „Man muss jedes Mal alles neu erklären.“ Vielleicht ist das „Erklären“ auch der falsche Modus. Letztlich steht Diedrichsen für den Verkopften Kenner-Helden, der auch mal Sätze mit etwas zu vielen Fremdwörtern schreibt.

Doch auch wenn diese Art die Falsche sein mag. Diedrichsen tritt dafür ein, dass Popmusik bedeutsam ist und nicht nur ein Unterhaltungsangebot. Das Popmusik etwas über seine Hörer ausdrückt, was man mit Worten noch nicht oder gar nicht sagen kann. Wäre die Welt eine bessere, wenn wir alle so dächten?

Von Detlef Diedrichsen sind neben diversen anderen Veröffentlichungen seine gesammelten Kritiken von 1979 bis 1999 sowie seine Kritiken für den Tagesspiegel von 2000 bis 2004 erschienen.

1 Kommentar:

John Cale hat gesagt…

Hi,

interessanter Text!

Dieses Interview von Diederichsen mit Lou Reed, wisst Ihr, wann das war und ob das irgendwo online verfügbar ist?
Danke!